Heidi Huß

Geboren bin ich 1939 in Meißen; verbrachte Kindheit und Jugendjahre in Zwickau-Planitz sowie Chemnitz / Karl-Marx-Stadt.
Nach Jahren des Direkt- und Fernstudiums konnte ich bis 1990 in meinem Beruf als Diplomlehrerin für Deutsche Sprache und Literatur und in anderen Bereichen des Bildungswesens arbeiten.
Mit der Wende kam auch die Erfahrung, arbeitslos zu sein. Im sozialen und kulturellen Bereich erschloss ich mir neue Felder.
So gehöre ich seit 1997 dem 1. Chemnitzer Autorenverein e.V. an.
Produktives Streiten in der Literaturwerkstatt, Lesungen in Chemnitz und der Region bilden einen wichtigen Teil meiner Freizeit.
Miniaturen, Kurzgeschichten, auch Gedichte sind in den Anthologien des Vereins veröffentlicht.
2003 erschienen in der NORA Verlagsgemeinschaft Berlin „Ein Klassentreffen und andere Begegnungen“, sowie
2013 „Gunda, Clara, du und ich“ und
2004 bei TT Art’s Chemnitz das Kinderbuch „Ich bin der Max aus Kiew“ sowie
2013 „Ich bin die Mama von Lundun“.
1996 und 2005 erhielt ich erste Preise im künstlerisch-literarischen Wettbewerb der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung.
2018 wurde ich Preisträgerin beim Wettbewerb „Chemnitzer Stadtgeschichten“.
Ich bin Seniorin, verwitwet, habe eine Tochter und drei Enkel.

Leseprobe

Im Mai 2019 konnte ich mit meinem Beitrag „Eine durchaus hilfreiche Betrachtung“ den ersten Preis beim 17. nd Lesergeschichten Wettbewerb gewinnen. Das nd titelte am 25.05.2019: Siegerkrone für ein „Auslaufmodell“.

Eine durchaus hilfreiche Betrachtung

Scheinbar bin ich ein Auslaufmodell. Ich schreibe noch Briefe. Sogar mit der Hand. Fast hätte ich mir zum internationalen Tag der Handschrift selbst einen Glückwunsch geschickt. So bin ich sicher in der kleinen Postfiliale in meinem Wohngebiet die beste Kundin.

Vor mehr als 40 Jahren – kurz vor seinem Tod – übergab mir mein Vater eine Mappe mit Zeichnungen aus meiner Kinder- und Jugendzeit. Und die Briefe eines Jahres, von mir geschrieben während des Zusatzstudiums in Berlin, in dem Jahr, in dem die Mauer wuchs.

Hätten Mutter und Vater ein Telefon gehabt, ich hielt jetzt nichts mehr in den Händen. So durfte ich mir ins Gesicht schauen. Mit Neugier lese ich die Zeilen heute, bin sogar aufgeregt. Die Achtzigjährige trifft eine Junge von 22 Jahren.

Was für Theaterabende! Ernst Busch als Galilei, die Weigel als Pelageja Wlassowa. Der Pergamon-Altar – unser Schreiten auf den breiten Stufen. Bummeln am Alex und Baden im Müggelsee; meine Studentenbude mit der alten Glodde; Klausuren, Klausuren! Lenins Empiriokritizismus – nie begriffen, Angst vor der Prüfungslektion, meine Schwächen in Gehörbildung. Und die große Liebe! Den Eltern gestanden mit klopfendem Herzen auf geduldigem Briefpapier.

Eine ferne Zeit und doch meine Zeit, die ich gelebt mit allen Konsequenzen. Und Dank auch, dass ihr die Briefe aufbewahrt.

Auch ich bewahrte Briefe auf. Von der Freundin, die auf der anderen Seite des Vorhangs lebte. In Marburg, Düsseldorf, Saarbrücken. Im Staat Missouri in den USA. Sechzig Briefe, geschrieben zwischen 1950 und 1970. Mit einer wunderschönen klaren Schrift. Ob sie noch weiß, welches Thema sie für den Abituraufsatz gewählt hatte? Oder wie ihre erste  Wohnung eingerichtet war? Wohl kaum. Ich konnte es nachlesen. Im Jahr 2008 schenkte ich ihr die Briefe. Da wurde die Freundin siebzig Jahre alt.

Eine fleißige Briefeschreiberin war meine Tochter. Die knallig gelben Seiten mit den bunten Blumenkanten interessieren heute auch die Enkelkinder. Mutti hat ja kaum Fehler gemacht!, staunen sie. Und wie aufregend es in einem Ferienlager war!

Jahre später lebt und studiert die Tochter in Moskau. 1985 bis 1990 – die Zeit von Perestroika und Glasnost. Ich erlebte sie mit. Aller paar Tage ein Brief, engzeilig die Seiten, die Schrift oft krakelig. Geschrieben im Bett, dem einzigen warmen Ort im eisigen Internat. Und ich litt mit unter Kakerlaken und fehlendem Klopapier und teilte in Gedanken die Kälte, den Hunger, aber auch den Spaß und die Herzlichkeit junger Menschen aus vielen Ländern der Erde in dieser aufregenden Stadt. Hunderte Briefe! Ich habe sie alle abgetippt und zu Kapiteln gefasst. Dann überreicht zum 35.Geburtstag. Gut, dass du noch kein Handy hattest. Ein Knopfdruck nur – vorbei, verweht, nicht  wiederholbar. Nicht nachlesbar.

Und die Briefe vom Freund, der Jugendliebe. Anfang der 60er Jahre. Alltag und große Politik.  Auch Himmel und Hölle. Jubel und Verzweiflung. Freude über eine schwarze Kulimine. Und welche Schlagersänger wir mochten! Peter Kraus! German Titow flog ins All und Christa Wolf ließ uns in den “Geteilten Himmel“ blicken. Ach, ich habe sogar gestrickt. Männerpullover. Mit dicken Nadeln und dicker Wolle. Heute weiß ich, auch Handys hätten die Liebe nicht retten können. Aber die Briefe sind mir geblieben. Welch ein Schatz!

Was wäre mit den Großen dieser Welt, den Prominenten: Schiller, Heine, Mozart, Schumann… Auch Agricola. Nichts, gar nichts oder nur wenig wüssten wir vom Leben vor uns. Geschichte ohne Geschichten, ohne Gesichter. Wären da nicht die Briefe. Zu Tausenden. Nein unzählbar! Geschrieben bei blakendem Kerzenschein, mit Federkiel oder Bleistiftstummel. Wichtiges und Profanes festgehalten auf Pergament, ausgerissenen Heftseiten oder Packpapier. Und aufbewahrt!

Briefe als Brücken über Entfernungen hinweg. Über Zeiten auch. Quellen, die für uns Nachgeborene üppig sprudeln, wenn wir sie zu nutzen wissen. Briefe faszinieren mich. Von Jahr zu Jahr mehr.

Auf meinem Schreibtisch steht ein Körbchen mit über fünfzig Briefen und Karten. Glückwünsche zum Achtzigsten. Ich kann mich täglich daran erfreuen.